Ulf Paulsen

Heldenbariton/Bassbariton

Erinnerungen an Ulf Paulsen

Ulf Paulsen war mein Mann. Mein geliebter Mann. Am 13. April 2022 starb er an Krebs. Ulf war da gerade einmal 57 Jahre. Zwanzig Jahre hatten wir zusammen gelebt.

Ulfs vorzeitiger Tod war für mich ein Schock, und ebenso für seine Kollegen am Anhaltischen Theater, an anderen Bühnen und schließlich für seine Fans, die ihn als Sänger schätzten und bewunderten. Ob als Jago in Verdis “Otello”, als Wotan in Wagners “Walküre“. Und immer wieder als Don Giovanni, die am häufigsten von ihm gesungene Partie.

21 Jahre war Ulf am Anhaltischen Theater in Dessau engagiert. Dass er 2001 von Johannes Felsenstein nach Dessau geholt wurde, war für das Opernpublikum ein Glücksfall – und für mich, denn in Ulf fand ich die Liebe meines Lebens.

Wer Ulf ausschließlich von der Dessauer Bühne kennt, übersieht schnell, dass diese einen wichtigen, aber eben nur einen Teil seiner künstlerischen Biographie ausmachte.

Blockflöte und Posaune

Geboren wurde Ulf am 19. November 1964 in Bremervörde als Kind des Schmiedemeisters Friedrich Paulsen und Hannelore Paulsen. Er und seine ältere Schwester Kirsten erlebten eine behütete Kindheit. Im Haus am Großen Platz trafen sich oft die Nachbarskinder zum Spielen. Da seine Mutter im Büro der Schmiede arbeitete und die Großeltern mit im Haus wohnten, musste er nicht in den Kindergarten gehen, denn dort hatte er nach einem kurzen Besuch auch lautstark protestiert.

Wie damals üblich lernte er in der Grundschule Blockflöte, erst die C-, dann die Altflöte. Entdeckt wurde Ulfs musikalisches Talent auf dem Gymnasium von seinem Musiklehrer Wilfried Stegen, der zugleich Kantor der Bremervörder St. Liborius Kirche war. Er bot Ulf an, bei ihm Posaune zu lernen. Ulf sagte ja, begann mit Zwölf den Unterricht an der Posaune, und später kamen noch Klavier und Orgel hinzu. Schließlich trat Ulf mit dem Posaunenchor auf und begleitete Gottesdienste der Gemeinde auf der Orgel.

In der Kantorei sang Ulf Tenor. Jedes Jahr nahm sich der Chor ein größeres Werk vor, der nicht nur Gottesdienste regelmäßig begleitete, sondern überdies Oratorien und Requiems aufführte.

Nach Abitur und dem Zivildienst als Rettungssanitäter beim DRK begann Ulf sein Musikstudium in Köln – und nicht im Fach Gesang, sondern an der Posaune.

Köln: Studium und Rosa Funken

Gesangsunterricht nahm er privat bei Renate Peter – einer Lehrerin, die ihre Ermahnungen nicht immer im freundlichen Ton vortrug und stets auf Körperdispositionstraining setzte. Sie forderte Ulf heraus, er ließ sich gerne darauf ein und seine Stimme gewann: Vom Basso Cantante bis zum hohen Bariton vermochte er die unterschiedlichsten Partien zu singen.

Studium und Gesangsausbildung finanzierte Ulf mit Auftritten in der Kleinkunstszene. Er arbeitete mit Dirk Bach, Hella von Sinnen oder Ralf Morgenstern zusammen – frühen Ikonen dessen, was heute LGBTQI-Bewegung genannt wird. Ulf war fest in dieser verankert, gründete den ersten schwulen Männerchor in Köln, die “Triviatas” und schloss sich den “Rosa Funken” an, der ersten schwulen Karnevalsgesellschaft Kölns. Und mit dem Gay-Volleyball-Verein Janus reiste er zu Spielen bis nach New York und San Francisco.

Köln war für Ulf eine verrückte Zeit, und später besuchten wir gemeinsam dort oft seine alten Freunde.

Galeerenjahre in Görlitz

Sein erstes festes Engagement führte Ulf 1996 an das Stadttheater nach Görlitz. Ganz vom Westen der Republik in deren äußersten Osten. Große Partien wie Germont in “Traviata” und Kaspar im “Freischütz”, Eugen Onegin und Don Giovanni erwarteten ihn. Er gab den Don Quichotte im Musical „Mann von La Mancha“ oder übernahm die Basspartien des Mustafa (“Die Italienerin in Algier”) und des Don Magnifico (“La Cenerentola”). Kaum war eine Premiere vorüber, begannen die Proben fürs nächste Stück. Premiere, Proben, Premiere, Proben – von seiner Görlitzer Zeit sprach Ulf als eine der „Galeerenjahre“.

Prag: Don Giovanni und der erste Wagner

Zugleich wurde die Stadt an der Oder sein Tor nach Prag. Den Kontakt dorthin stellte der Freund und Görlitzer Kapellmeister Milo? Krej?i her. Am Prager Ständetheater, dem Ort der Uraufführung, wurde während des Sommers en suite Mozarts “Don Giovanni” gespielt. Als einer von drei Sängern übernahm Ulf die Titelpartie.

Dieses Engagement wurde Auftakt für immer neue Gastauftritte in Tschechien. Das Ständetheater-Team holte Ulf an die Prager Staatsoper und das Nationaltheater. Ulf sang Nabucco, Escamillo, Amonasro und Bertram, einmal mehr den Don Giovanni und schließlich seinen ersten Wagner – den Kurwenal in “Tristan und Isolde”, später den Amfortas im “Parsifal”.

Einer der Gastregisseure in Prag hieß zu jener Zeit Johannes Felsenstein, seit 1991 Intendant in Dessau. Felsenstein vertraute für seinen “Freischütz” Ulf die Rolle des Kaspers an, und war so überzeugt, dass er Ulf 2001 ans Anhaltische Theater holte.

Als Zar nach Dessau

Ulfs erste Partie in Dessau war Zar Peter in Lortzings “Zar und Zimmermann”. Ulfs stattliche Figur in Zimmermannskleidung und in Zarenuniform und seine Darstellung beeindruckten das Publikum – und mich. Als Bösewicht Jack Rance in Puccinis Oper „Mädchen aus dem Westen“, von Antony Pilavacchi als Psycho-Thriller inszeniert, jagte Ulf im zweiten Aufzug den Zuschauern Schauer über die Rücken.

Mit dem Wassermann in Dvoráks “Rusalka” (Regie: Johannes Felsenstein) sorgte Ulf bei jeder Aufführung für Raunen im Publikum. Denn nachdem im zweiten Akt 20 Minuten verstrichen war, hob die bislang regungslose Brunnenfigur den Arm – und Ulf stimmte seine Arie an. Unter Felsenstein sang Ulf auch den Kurwenal im Tristan und Amfortas im Parsifal als „Mumie“ auf Stelzen.

Gehen? Bleiben? Bleiben!

Wollte Ulf nie weg, an ein noch größeres Haus? Häufiger dachte er darüber nach. Doch dann lockten in Dessau wieder die besonderen Partien, wie Boris Godunow oder Macbeth, später unter André Bücker der “Ring des Nibelungen”.

Ulf blieb also in Dessau und an einem Haus, an dem er sich sehr wohl fühlte. Er mochte die große Bühne, die hervorragende Akustik und nicht zuletzt die Mitarbeiter hinter der Bühne, zu denen er immer ein freundliches und kollegiales Verhältnis pflegte, ohne kritische Auseinandersetzungen zu scheuen.

Vor allem aber: Ulf mochte sein Publikum, das ihn seinerseits liebte und ihm zujubelte. Wir vermissen ihn sehr und denken oft an ihn, höre ich oft seit seinem Tod.

Während seiner Dessauer Zeit gab Ulf weiterhin Gastspiele. In Prag war er vom Dirigenten Robert Jindra 2011 ans Moravische Nationaltheater nach Ostrava eingeladen worden. Dort präsentierte er zunächst in englisch den Nick Shadow in Strawinskys “The Rake’s Progress” – und sang danach weitere Rollen in Tschechisch.

Um die Texte für die große Partie des Zauberers Ismen in Dvo?ák “Armida” zu lernen, hatte Ulf eine eigene Methode entwickelt. Während unseres Urlaubs in der Tatra lernte er früh eine Stunde, memorierte dann Text und Melodie während unserer ausgedehnten Gebirgswanderungen und am Abend saß der Abschnitt.

Ulfs Auftritt überzeugte selbst Muttersprachler. Als eine CD der Inszenierung präsentiert wurde, redete man anschließend tschechisch auf ihn ein, in der irrigen Annahme, er würde das Gesagte verstehen.

Englisch und Französisch hingegen sprach Ulf nahezu perfekt. Italienisch sang er zwar, konnte es sich übers Französische ein wenig erschließen, sprach es jedoch nicht. Für seine Bühnenauftritte stellte das freilich kein Handicap dar.

Die Leidenschaft für Wagner

Sollte die Rolle des Don Giovanni mit 76 Auftritten die seines Lebens sein, so wurde Wagner mit den Jahren Ulfs Leidenschaft.

Der Wanderer und der Wotan forderten und formten seine Stimme, machten sie voluminöser, größer. Trotzdem achtete Ulf stets darauf, nicht von der Bühne herab zu deklamieren. Er hasste es, wenn Gesang und Text auseinander fielen.

Üblicherweise bereitete sich Ulf sehr sorgfältig auf seine Rollen vor. Üblicherweise. Einmal besuchten Ulf und ich die zweite Aufführung von Felsensteins Inszenierung der “Zauberflöte”. Ulf verschwand hinter der Bühne, wünschte den Kollegen toi toi toi. Der Serastro, hieß es jedoch, sei heiser. Und wirklich, als der seinen ersten Auftritt kurz vor der Pause hatte, brachte er keinen Ton heraus.

In der Pause ein Durchruf in den Zuschauerraum: Herr Paulsen möge sich hinter der Bühne melden. Zusammen mit Generalmusikdirektor Golo Berg am Klavier ging Ulf die Partie durch – eine Partie, die er noch nie gesungen hatte.

Nach der Pause stand der eigentliche Sarastro stumm spielend auf der Bühne und Ulf sang mit den Noten vor sich dazu. Es gab wohl selten so viel Applaus nach der Hallenarie und Jubel am Ende der Vorstellung.

Der Holländer. Endlich.

Mit der Intendanz von Johannes Weigand kamen ungewöhnliche Aufgaben auf Ulf zu. Die Mamma Agatha in „Sitten und Unsitten am Theater“ von Donizetti machte ihm ein Heidenspaß. Mit dem Ballett zu tanzen oder als Bravoureinlage die Arie der Rosina aus dem „Barbier“ zu jodeln und dabei die „Rampensau“ zu geben, da fühlte sich Ulf in seinem Element und beim Publikum blieb kein Auge trocken. Ähnlich ungezügelt sein Auftritt im Musical „Kiss me Kate“ als Petruccio mit Gegenspielerin Rita Kapfhammer als Katharina. Eine schöne und unbeabsichtigte Fortsetzung eines anderen Kabinettstücks, nämlich der Wotan-Fricka-Szene aus der Walküre.

Und dann endlich der „Holländer“, in der beeindruckenden Inszenierung von Jakob Peters-Messer. Mit Iordanka Derilova als Senta, einer Bühnenpartnerin, die schon in Prag mit Ulf auf der Bühne stand. Beide Sänger zusammen zu erleben, sorgte oft für spannende Opernaufführungen. Auch abseits der Bühne waren die beiden Freunde.

Motorrad und Zitruspflanzen

Doch Ulf musikalische Aktivitäten waren auch in seiner Dessauer Zeit nie nur aufs Theater begrenzt. Er sang auf Geburtstags- und auf Trauerfeiern. Bei einer Gruppenreise nach Prag gab er den Gästeführer – er kannte die Stadt schließlich bestens. Und in Dessau erinnerte er sich wieder seiner musikalischen Herkunft und des Posaunenspiels, schloss sich dem Posaunenchor an und arrangierte für diesen Stücke.

Privat war Ulf ein Mensch, der Geselligkeit liebte. Wir hatten oft Gäste zu Hause. Mit den Kollegen wurde nach Proben und Vorstellungen ausgiebig gefeiert, auch in beliebten Lokalitäten.

In seiner Freizeit malte er in Öl Landschaften oder Motive aus dem Wörlitzer Gartenreich. Gemeinsam besuchten wie die großen Gemäldegalerien in London, Paris oder Madrid und Ulf verstand es, die Malerei von der Renaissance bis zur Moderne nachvollziehbar zu erklären, auch Freunden oder Nachbarn.

Auf der anderen Seite: Ulf und sein Motorrad. Die Reisen führten durch die Alpen nach Südtirol, an die Loire, nach Schottland. Dann wieder zog es ihn in den Garten nach Mosigkau zurück: Er pflanzte Bäume und züchtete Zitruspflanzen.

Nichts deutete daraufhin, dass sich alles, wirklich alles, so schnell ändern würde.

Singen gegen den Krebs – und mit ihm

2020 wurde bei Ulf Krebs diagnostiziert. Vom Singen konnte ihn das nicht abhalten. Im Herbst 2020 trat er mit dem herausfordernden Liederzyklus „Die schöne Magelone“ auf. Und nur vier Wochen nach seiner ersten großen OP im Mai 2021 stand er mit dem Chor gemeinsam auf der Bühne und sang in “Zar und Zimmermann” als van Bett die Singschule. Als Jeletzki aus Tschaikowskys Oper “Pique Dame” und Posa aus “Don Carlos” trat Ulf kurz darauf bei der Operngala unter freiem Himmel auf.

Intensiv bereitete er sich auf die nächsten Partien vor: Den Rigoletto, den er noch zwei Mal unter gewaltigem Kraftaufwand sang. Und den Ibn Haikia, den maurischen Arzt in Tschaikowskis Iolanta, mit dem er am 13. Februar 2022 zum letzten Mal auf der Bühne stand und an diesem Tag noch einmal sein ganzes Können zeigte. Genau zwei Monate später starb Ulf.

Der Wunsch, im „ Rosenkavalier“ als Ochs zu zu brillieren, war ihm nicht mehr vergönnt.